Videotheken, ein Phänomen der 80er und 90er
Im thüringischen Niederorschel steht ein großes weißes Haus, das jedes Mal, wenn ich dort vorbeifahre, nostalgische Gefühle in mir weckt. Was es damit auf sich hat? Lest selbst…
Als jemand, der seine Jugend in den 1990er Jahren verbracht hat, gibt es für mich viele Dinge, die mein Leben in unterschiedlichem Maße geprägt haben. Seien es nun Videospiele oder Comics, Serien oder Filme, meine Leidenschaft für diese Themen wurde damals entweder entfacht oder weiter vertieft. Einen nicht geringen Anteil hieran hatten die sogenannten Videotheken. In heutigen Zeiten von Netflix und Amazon Prime ist es kaum mehr vorstellbar, aber man ging seinerzeit tatsächlich in Läden, in welchen es immer ein wenig nach kaltem Zigarettenrauch „duftete“, um sich dort eine VHS-Kassette mit dem neuesten Film auszuleihen, und diese dann am nächsten Tag ordnungsgemäß zurückgespult wieder zurück zu bringen.
Für den zwölfjährigen Steffen sah das in der Praxis damals so aus: ich nervte meinen Vater am Samstag Abend so lange, bis dieser sich mit mir ins Auto setzte, um mich in den Nachbarort Niederorschel zu kutschieren. Die dortige Videothek war das Ziel meiner Begierde und quasi mein Paradies. Privatfernsehen war damals noch nicht bei uns angekommen, so dass ich nur hier die Vielfalt vorfand, die ich mir wünschte. Nach einer gefühlten halben Ewigkeit hatte ich mir dann einen oder zwei Filme ausgesucht, und begab mich mit meinem Papa glücklich wieder nach Hause, um im Zimmer meines Bruders (der über einen Videorekorder verfügte, sich um diese Uhrzeit aber bereits auf dem Weg in eine Diskothek befand und so nett war, mich dieses Wunderwerk der Technik nutzen zu lassen) diese Filme anzuschauen. Der Abend und somit auch das Wochenende waren gerettet!
Viele Filme wie „Ghostbusters“ oder „Police Academy“ sah ich auf diesem Weg zum allerersten Mal, und mit Fug und Recht kann ich behaupten, dass dies meinen weiteren Lebensweg mehr oder weniger beeinflusst hat. Daher möchte ich heute einmal über das Phänomen „Videotheken“, vor allem in den neuen Bundesländern, schreiben. Und was würde sich da mehr anbieten, als Informationen aus erster Hand. Umso erfreuter bin ich daher, dass die Inhaberin von „Super Video“ aus Niederorschel, Frau Ingrid Thüne, bereit war, mir hierzu ein paar Fragen zu beantworten!
Ingrid Thüne hatte 1989 mit ihrem Mann ein Haus in Niederorschel bezogen, und wie bei vielen Menschen zur damaligen Zeit brachte die Wende nicht nur gutes mit sich. Sie wurde arbeitslos und stand vor der Frage, was man mit dem großen Haus und der freien Zeit anfangen könne. Als nun die Grenzen nach Westdeutschland geöffnet wurden, schwappten nicht nur Coca Cola und Nutella zu uns. Sondern auch viele Phänomene, die man bis daher nur aus dem Fernsehen bzw. überhaupt nicht kannte.
Eines davon waren Videotheken. Und diese fielen auch ins Blickfeld von Frau Thüne: „Mir war klar, dass ich irgend etwas machen wollte. Ein Geschäft eröffnen, oder etwas in der Richtung. Erst haben wir überlegt, eine Eisdiele oder Imbissbude zu machen. Aber dann wurde unsere Aufmerksamkeit durch viele Werbeanzeigen auf Videotheken gelenkt“, erinnert sie sich.
Es fuhr damals sogar ein Zug durch die Gebiete der ehemaligen DDR, der als eine Art fahrende Messe fungierte. Bestückt mit Info-Ständen von westdeutschen Videotheken, mit dem Ziel, hierfür auch Betreiber im Osten zu finden. Eine außergewöhnliche, aber wirkungsvolle Art des Marketing: Dort kam Frau Thüne nämlich in Kontakt mit einem Videothekar aus Wiesbaden.
Dann ging alles recht schnell: „Am 15.12.1990 haben wir unseren Laden eröffnet. Anfangs noch mit geleasten Videos aus Wiesbaden. Wir sind einmal pro Monat hin gefahren um neues Material zu besorgen.“, so Thüne.
Der Name „Super Video“ entstand übrigens auf eine Empfehlung aus Wiesbaden in Anlehnung an die dortige Kette. In den folgenden Monaten suchte sich Frau Thüne noch einen zweiten Kooperationspartner in Erfurt, da Wiesbaden vom thüringischen Niederorschel ja doch immer ein gutes Stück zum fahren war. Zu den geleasten Kassetten kamen im Laufe der Zeit auch eigene hinzu, denn viele der direkt nach der Wende eröffneten Läden hatten mittlerweile wieder geschlossen, so dass man günstig deren Bestände aufkaufen konnte.
Und so kam es, dass sich der Laden zu einer festen Größe in der Region entwickelte. Werbung haben die Thünes jedoch wenig gemacht. „Es hat sich eben herum gesprochen“, erzählt Ingrid Thüne. In Spitzenzeiten hatte die Videothek circa 3.000 Filme im Bestand und konnte um die 2.500 Kunden zählen. Es gab auch eine Zusammenarbeit mit der vermeintlichen Konkurrenz; mit der Leinefelder Videothek herrschte gar ein reger Austausch, man fuhr gemeinsam auf Messen und gab sich Tipps im Umgang mit Kunden.
Ein Fakt, der für den Leser dieses Artikels nicht uninteressant sein wird: „Super Video“ hatte auch von Anfang an Videospiele im Angebot. Genauer gesagt Spiele für Mega Drive, sowie drei Konsolen von Segas 16-Bitter. Wie kam es hierzu?
Dazu Ingrid Thüne: „Das kam auch über unseren Partner in Wiesbaden. Der hatte uns halt mal die Geräte mitgegeben und gesagt das könnte man auch anbieten.“ Dieses Standbein hat sich jedoch nicht wirklich gelohnt, da die Anschaffung der Spiele schlicht zu teuer war. Die im direkten Vergleich höheren Kosten waren auch der Grund, warum Produkte von Sega anstatt vom Konkurrent Nintendo angeboten wurden. Auch ich habe damals von diesem Angebot Gebrauch gemacht, selbst nur im Besitz eines Sega Master System, war ich froh, dass ich wenigstens einmal kurz dessen großen Bruder zu Hause bespielen durfte. Und einen Werbeprospekt für die Konsole, der auf dem Tresen zur Mitnahme ausgelegt war, habe ich bis heute in meinem Besitz.
Gegen Ende der 1990er Jahre kristallisierte sich der Wechsel von VHS-Kassetten zur DVD heraus. Immer mehr wurden die klobigen Bänder mit der vergleichsweise schlechten Bild- und Tonqualität durch die silbernen Scheiben verdrängt. Aber trotzdem hielt Ingrid Thüne bis zum Schluss auch an der veralteten Technik fest, zumindest teilweise: es gab dann eben sowohl VHS als auch DVD!
Die neue Technik und die neuen Medien waren auch das erste Anzeichen für den schleichenden Niedergang der Videotheken. „Die DVD lief ein paar Jahre nach der Einführung noch ganz gut, aber dann wurde die Nachfrage immer geringer“ erinnert sich Thüne wehmütig.
Was sind die Gründe hierfür? Einen großen Anteil hat sicherlich das aufkommende Internet mit seiner schnellen und bequemen Verfügbarkeit von Filmen aller Art. Aber Ingrid Thüne führt auch den Unterschied im Freizeitverhalten zwischen Dorf und Stadt auf: „Wenn man in einer Stadt in einer Wohnung lebt und vielleicht sogar arbeitslos ist, dann hat man einfach mehr Zeit. Auf dem Dorf ist das doch nochmal anders. Da hat jeder sein Haus und auch so genug zu tun.“ Zudem seien viele der jüngeren (also meiner) Generation weg gezogen. In diesem Punkt hat sie natürlich recht, ich kann hier aus eigener Erfahrung sprechen, und es tut mir ein wenig leid, dass ich selbst zumindest einen kleinen Teil zu dieser Entwicklung beigetragen habe.
Anfangs versuchte man noch, mit einer Reduzierung der Öffnungszeiten auf diesen Rückgang der Nachfrage zu reagieren. Aber auch dies half nicht allzu lange. Und so war dann am 31.03.2010 nach fast 20 Jahren der letzte Tag für „Super Video“ gekommen.
Die verbliebenen Filme wurden in einem Ausverkauf unter die Leute gebracht, die letzten Sega-Spiele wurden vor ein paar Jahren bei eBay verkauft. Heute erinnert nur noch der Rahmen eines Schildes vor Thünes Haus an den ehemaligen Standort. „Manchmal kommt auch noch ein Anruf, weil meine Nummer in Verbindung mit dem Stichwort Videothek noch im Internet steht. Ich muss das irgendwann mal löschen lassen“ erzählt die ehemalige Inhaberin.
Gab es in dieser langen Zeit eigentlich einen Renner, einen Film der immer und immer wieder ausgeliehen wurde? „Ja, vor allem die Filme ab 18 wie Gesichter des Todes waren sehr beliebt. Der wurde dann aber irgendwann mal verboten so dass wir ihn rausnehmen mussten. Und natürlich die Pornofilme. Die waren lange Zeit unser Hauptumsatzbringer.“ schmunzelt Thüne.
Im Nachhinein betrachtet war es eine schöne Zeit, an die sich Frau Thüne gern zurück erinnert. Dass es heute in manchen Städten noch einige wenige Videotheken gibt, die sich tapfer gehalten haben, findet sie gut. Obwohl sie nicht glaubt, dass man damit noch Geld verdienen kann. „Es ist wohl mehr so ein Nostalgie-Ding!“
Retro-Kram auf ganzer Linie eben! 🙂